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Sozialistische Architekturen im Blick der Fotografen Thorsten Klapsch und Frédéric Chaubin
Seit 2009 ziert eine leere Rasenfläche den Schlossplatz im Zentrum der Hauptstadt. Rein gar nichts erinnert mehr an den abgerissenen Palast der Republik. Er wurde hier 1976 eröffnet und diente als Sitz der Volkskammer ebenso wie als beliebter Treffpunkt mit attraktivem Kulturangebot und gastronomischen Einrichtungen. Doch mit dem Ende des Arbeiter- und Bauernstaates stand auch der unübersehbare Repräsentationsbau zur Disposition. Er hat die deutsch-deutsche Öffentlichkeit über 20 Jahre heftig beschäftigt und verschwand nach vehementen Auseinandersetzungen über die Zukunft der Mitte Berlins und einigen illustren Zwischennutzungen aus dem Stadtbild.
Die politische und gesellschaftliche Funktion dieser verloren gegangenen Superbox als Prestigeobjekt für die DDR-Führung wie als offenes Haus des Volkes wurde bereits in zahlreichen Publikationen gewürdigt und kritisiert, hinterfragt und bewertet. Der Palazzo Prozzo war die große Bühne für ein kleines Land. Er symbolisierte für viele Ost-Bürger ein Stück erlebter Identität, ein Gefühl von materiellem Wohlstand und technischem Fortschritt sowie einen Hauch von Welt und Glamour. Thorsten Klapsch hingegen liefert uns keine weitere theoretische Analyse oder nostalgische Erinnerungsliteratur. Ohne eigenen Kommentar konfrontiert er uns in seiner seriellen Fotografie mit dem Bau an sich und lässt ihn selbst seine Geschichte(n) erzählen. Anfang 1993 hatte er die Chance bekommen, in einer Art Bestandsaufnahme den intakten Zustand nach der Schließung wegen Asbestbelastung im Jahr 1990 beziehungsweise noch vor der Ausräumung und endgültigen Stilllegung festzuhalten.
Auf einem virtuellen Rundgang führt er uns nicht nur an die bekannten Orten der Volkskammer, des Großen Saals oder der Foyers und Restaurants zurück. Aufgesucht werden auch nichtöffentliche Funktions- und Versorgungsbereiche wie Konferenz-, Büro- und Technikräume, Küchen oder Keller, die einst den reibungslosen Ablauf in der täglich genutzten Einrichtung gewährleistet haben. Ohne zu arrangieren hat der Fotograf seine Objekte in Totalen und aus klassischer Perspektive streng in Szene gesetzt oder in Ausschnitten die Aufmerksamkeit auf typische Details gelenkt, die wiederum für das Ganze stehen. Eine präzise Bildkomposition, die mit der Architektur kongenial korrespondiert. So entsteht trotz der Zweidimensionalität der rund 60 Abbildungen ein authentischer Eindruck von dem realen Raumgefüge und den gestalterischen Qualitäten der Originalausstattung. Dabei werden gewissermaßen eine „Klein-DDR als Gesamtkunstwerk“ (Stefan Wolle) vor Augen geführt und dem Gebäude eine eigene Persönlichkeit attestiert.
Die großformatigen und hochwertig gedruckten Tafeln offenbaren mit ihrer gleichbleibenden Tiefenschärfe einen distanzierten, fast klinischen Blick auf die Relikte des aufwändigsten und teuersten Sonderbaus der DDR im Stil einer „nachgeholten Moderne“ (Thomas Topfstedt). Ohne voyeuristischen Beigeschmack fangen sie die gespenstisch leblose Atmosphäre in einem Sarkophag ein. Förmlich zu spüren ist die stillgestellte Zeit in dem menschenleeren Haus mit seinem kompletten Inventar – bis auf die entfernten staatlichen Hoheitszeichen –, das auf eine weitere Bespielung zu warten scheint. Die Reduzierung auf die Formensprache und Oberflächen der Räumlichkeiten und ihres Interieurs lässt den Zeitgeist und die Ästhetik der 1970er-Jahre besonders deutlich hervortreten: jene lang umstrittene und erst langsam wiederentdeckte Epoche mit ihrer plastischen Materialität, mit intensiven Farben, geometrischen Mustern, getönten Scheiben.
Die Arbeit von Klapsch steht in einer langen Tradition der dokumentarischen oder künstlerischen Architekturfotografie, die in Bezug auf das Palast-Motiv unter anderem von Gerhard Murza zu DDR-Zeiten über Christian von Steffelin und Christoph Petras bis zu Thomas Florschütz reichen. Letztere haben vor allem die einzelnen Stadien der allmählichen Verwahrlosung, der Entkernung und des Rückbaus mit ihrer besonderen Handschrift ins Bild gesetzt.
Andere wiederum richteten den Blick noch viel weiter nach Osten. Das Museum für Neue Kunst im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe (ZKM) präsentiert beispielsweise Anfang 2011 faszinierende Architekturbilder von Frédéric Chaubin in seiner Ausstellung „CCCP – Cosmic Communist Constructions Photographed“, zu der parallel die gleichnamige Publikation erschienen ist.
Der französische Publizist hatte seit 2003 verschiedene Reisen durch Länder der ehemaligen UdSSR unternommen und sich einer „Archäologie der Gegenwart“ verschrieben, die er in seiner Einleitung näher erläutert. Bei seinen Recherchen konzentrierte er sich auf außergewöhnliche, wenig linientreue Architekturbeispiele der späten Sowjet-Ära, das heißt auf utopische, irrational anmutende Projekte und abweichende Experimente „zwischen Wagnis und Wahnsinn“. Auch zu verstehen als eine Referenz an die erst langsam rehabilitierten Planer und Designer, deren damalige „ideologischen Leuchtfeuer“ heute leider durch fehlende Sanierung, erschwerte Umnutzung oder drohenden Abriss teilweise gefährdet sind.
Es ist die unerwartete Begegnung mit einer Fremde und einer Historie, die im Westen bislang kaum wahrgenommen wurden. Die hier zwischen 1970 und 1990 entstandenen Solitäre in russischen Anrainerstaaten vom Baltikum über Kaukasien bis Mittelasien erscheinen wie aus einer anderen Welt entsprungen: eine Reihe mit eigenartigen wie einzigartigen „Exponenten einer vierten Dimension“, die zu einem vergleichenden Sehen anregen. Auch wenn sich erkennbar Vorbilder des International Style, der Metabolisten und Signaturen von Oscar Niemeyer, Le Corbusier, Eero Saarinen, Louis I. Khan oder Kenzo Tange eingeschrieben und Impulse gegeben haben, so sprechen diese dynamischen und extrovertierten Entwürfe mit ihrem unkonventionellen Stilempfinden doch eine ganz eigenwillige Sprache. Sie können also keineswegs als simple Adaptionsversuche gelten, sondern sind als unabhängiger Diskurs zu begreifen, als kreative Ausdifferenzierungen oder innovative Transformationen der Moderne, die sowohl Traditionen neu interpretieren als auch mit regionalen Einflüssen eine exotische Synthese eingehen. Deshalb überwiegen spannende Neuentdeckungen die wenigen Déjà-vues.
Viele der monumentalen und autark anmutenden Komplexe wenden sich von ihrer Außenwelt geradezu ab. Wie losgelöst von Raum und Zeit stehen sie meist beziehungslos im städtischen und landschaftlichen Kontext oder triumphal als landmarks weithin sichtbar auf Anhöhen oder am Ufer. Sogar ihre eigentliche Funktion lässt sich an den mal fast schwebenden, mal steil aufragenden Formen selten ablesen. Die technoiden oder organischen Konstruktionen erinnern zunächst an futuristische Filmkulissen, an gestrandete Raumschiffe oder künstlerische Skulpturen – Kosmosphantasmen oder Science-Fiction-Visionen scheinen immer wieder auf.
Wie im Fall des DDR-Palastes handelt es sich bei den 90 vorgestellten Gebäuden um spezielle (Staats-)Aufträge für Ministerien, Kultur-, Gesundheits- und Sporteinrichtungen, Gedenkstätten oder wissenschaftlich-technische Zentren. Sie waren dementsprechend mit höheren Etats ausgestattet und setzten ein bestimmtes Qualitätsniveau voraus. Schon von daher stehen die nonkonformistischen Zeichen in einem starken Kontrast zu den üblichen monotonen Normbauten und schmucklosen „Chruschtschowkas“, die seit den 1960er-Jahren das oft kolportierte Bild trister Wohnviertel sozialistischer (Vor-)Städte bestimmen.
Darüber hinaus korrespondieren die bisweilen bizarren Gebilde genauso wenig mit den vorherrschenden Vorstellungen von einem kollektivistischen und stereotypen Architekturverständnis. Die expressiven Formen, verblüffenden Anordnungen, gewagten Gestaltungselemente und die sichtbare Materialität zeugen eher von individuellem Ausdruckswillen oder stolzer Selbstbehauptung und lassen auf beträchtliche Spielräume schließen. Wurden hier bewusst kulturelle Grenzüberschreitungen gewagt und von einer sich emanzipierenden Peripherie kritische Alternativen zu totalitären Vorgaben aus Moskau formuliert? Hatte die Zentrale in einem Stadium der allmählichen Auflösung bereits ihre Durchsetzungskraft verloren? Oder wollte sie in der Endphase der ideologischen Systemauseinandersetzung in einer Art Imagekampagne noch einmal Konkurrenzfähigkeit, Weltoffenheit und technischen Fortschritt beweisen?
Der voluminöse Bildband versucht, hierauf erste Antworten zu geben. Insgesamt trägt die Lektüre zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit der osteuropäischen Baugeschichte bei, der man zu lange mit alten Vorurteilen und Ressentiments begegnet ist oder die nur auf das Erbe der russischen Revolutionsavantgarde und des stalinistischen Neoklassizismus’ reduziert wurde.
Thomas Beutelschmidt, 07.03.2011, erschienen bei Literaturkritik.de
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